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Ich hatte nur einen Mitwisser – meinen Bruder Mycroft. Ich schulde Ihnen so viele Entschuldigungen, meine lieber Watson, aber es war sehr wichtig, dass jeder glaubte ich sei tot, und sicherlich hätten Sie keinen so überzeugenden Todesbericht über mich verfasst, wenn Sie nicht selbst geglaubt hätten, dass es wahr wäre. Ich habe in den letzten drei Jahren so oft meinen Stift angesetzt, um Ihnen einen Brief zu schreiben, aber jedes Mal fürchtete ich, dass Sie aus Sorge um mich versucht sind, sich zu verplappern und dadurch mein Geheimnis verraten. Darum habe ich mich auch heute Abend von Ihnen weggedreht, als Sie meine Bücher zu Boden warfen, denn ich war zu der Zeit in Gefahr und jedes Zeichen der Überraschung oder ein Gefühlsausbruch Ihrerseits hätte meine Fassade zerstört und betrübliche und irreparable Konsequenzen gehabt. Was Mycroft angeht, so musste ich ihn einweihen, damit er mir das nötige Geld zukommen lassen konnte. Die Ereignisse hier in London liefen nicht so gut wie ich es mir erhofft hatte. Der Prozess gegen die Moriarty-Bande ließ zwei der gefährlichsten Mitglieder, meine persönlichen und rachsüchtigen Feinde, auf freiem Fuß. Darum bereiste ich zwei Jahre lang Tibet, besuchte Lhasa und verbrachte einige Tage mit dem Dalai Lama. Sie haben vielleicht von den bemerkenswerten Entdeckungen eines gewissen Norwegers namens Sigerson gelesen, aber ich wette, es ist ihnen nie in den Sinn gekommen, dass Sie in Wirklichkeit Nachrichten Ihres alten Freundes empfingen. Danach durchquerte ich Persien, schaute in Mekka vorbei, stattete dem Kalifen in Khartoum einen kurzen, doch interessanten Besuch ab, dessen Ergebnisse ich über das Auswärtige Amt übermitteln ließ. Wieder in Frankreich verbrachte ich einige Monate mit der Forschung an Steinkohle-Derivaten in einem Labor in Montpellier im Süden Frankreichs. Als diese zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen war und ich herausfand, dass nur noch einer meiner Feinde sich in London aufhielt, fand ich es an der Zeit wieder zurück zu kehren. Diese Pläne wurden noch beschleunigt durch das sonderbare Park Lane Mysterium, das mich nicht nur von sich aus ansprach, sondern auch einige ganz vorzügliche persönliche Möglichkeiten bot. Ich kam also sofort nach London, stellte mich wieder als Sherlock Holmes in der Baker Street vor, versetzte Mrs. Hudson dadurch in einen hysterischen Anfall und fand heraus, dass mein Bruder Mycroft meinen Raum und meine Papiere so konserviert hatte wie sie immer schon waren. So war es also, mein lieber Watson, dass ich um zwei Uhr heute Mittag wieder in meinem alten Sessel saß und mir nur wünschte, dass mein alter Freund Watson den anderen Stuhl zieren würde.« Dieser kaum zu fassenden Geschichte habe ich also an diesem Abend im April gelauscht, eine Geschichte, die ich niemals geglaubt hätte, wenn sie nicht durch die Anwesenheit der schmalen Figur mit dem kantigen Gesicht, von dem ich nie gedacht hätte es jemals wiederzusehen, bestätigt worden wäre. Irgendwie hatte er auch von meinem schmerzlichen Verlust erfahren und seine Anteilnahme zeigte sich mir mehr in seinem Gebaren als in seinen Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Trauer mein lieber Watson«, sagte er, »und vor uns liegt ein Stück Arbeit, das, wenn erfolgreich erledigt, für sich allein schon die Existenz auf diesem Planeten rechtfertigt.« Vergeblich flehte ich ihn an mehr zu verraten. »Sie werden noch genug sehen und hören bevor der Morgen graut«, antwortete er. »Wir haben die drei zurückliegenden Jahre zu besprechen. Lassen Sie es damit bis halb zehn gut sein, wenn wir unser rühmliches Abenteuer des leeren Hauses beginnen.« Es war tatsächlich wie in alten Zeiten als wir zur genannten Stunde zusammen in einer Droschke saßen, mein Revolver in meiner Tasche und der Nervenkitzel des Abenteuers im Herzen. Holmes war emotionslos, ernst und still. Als ein Strahl der Straßenlaterne auf sein düsteres Gesicht fiel, sah ich, dass seine Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen und seine Lippen zusammengepresst waren. Ich wusste zwar nicht welche wilde Bestie wir im Dschungel des kriminellen Londons jagen wollten, aber ich war mir sicher, anhand des Verhaltens dieses Meisterjägers, dass dieses Abenteuer ein tückisches war – während das sardonische Lächeln, das gelegentlich über sein Gesicht huschte, kein gutes Zeichen für unsere Beute war. Ich dachte eigentlich, dass wir zur Baker Street fahren würden, aber Holmes ließ die Droschke schon an der Ecke zum Cavendish Square anhalten. Ich beobachtete als er ausstieg, dass er einen besorgten Blick nach rechts und links warf und an jeder weiteren Straßenecke machte er sich die größte Mühe um sicherzugehen, dass wir nicht verfolgt wurden. Unsere Route war sicher einzigartig. Holmes' Kenntnisse der Abkürzungen in London war außergewöhnlich und er ging daher schnell und sicheren Schrittes durch ein Netzwerk von Stallungen und Schuppen, von deren Existenz ich noch nie etwas gewusst habe. Wir kamen schließlich auf eine kleine Straße mit alten, düsteren Häusern, die uns in die Manchester Street und danach in die Blandford Street führte. Dort bog er geschwind in eine enge Gasse ein, ging an einem Holztor vorüber und gelangte in einen verlassenen Innenhof. Dort öffnete er mit einem Schlüssel die Hintertür eines Hauses. Wir gingen hinein und schlossen sie hinter uns wieder ab. Der Ort war stockdunkel, aber mir war sofort klar, dass dieses Haus leer stand. Unsere Schritte quietschten und krachten über die bloßen Holzplanken und meine Hand berührte eine Wand, deren Tapete nur noch in Streifen herabhing. Holmes' kalte, dünne Finger schlossen sich um mein Handgelenk und er führte mich vorwärts in eine lange Halle, bis ich das schwache Oberlicht einer Tür entdeckte. Hier drehte sich Holmes abrupt nach rechts in einen großen, quadratischen und leeren Raum, der in den Ecken völlig im Dunkeln lag, in der Mitte schwach durch die Lichter von außen erhellt war. Es war keine Lampe da und die Fenster waren dick mit Staub bedeckt, so dass wir nur unsere eigenen Gestalten schwach als Spiegelbild sahen. Mein Begleiter legte mir die Hand auf die Schulter und seine Lippen kamen nah an mein Ohr. »Wissen Sie wo wir sind?« flüsterte er. »Das ist doch Baker Street«, sagte ich nachdem ich aus den trüben Fenstern geschaut hatte. »Genau. Wir sind im Camden House, das direkt gegenüber zu unserem alten Quartier steht.« »Aber wieso sind wir hier?« »Weil man von hier eine exzellente Aussicht auf das Geschehen hat. Darf ich Sie bitten einmal näher ans Fenster zu treten, aber so, dass man Sie nicht sehen kann und Sie bitten einmal zum Fenster unseres alten Zimmers – dem Ausgangspunkt so vieler unserer Abenteuer – zu schauen? Mal sehen, ob meine dreijährige Abwesenheit mir völlig die Fähigkeit genommen hat Sie zu überraschen.« Ich kroch vorwärts und schaute mir das Fenster gegenüber an. Als ich erkannte was ich sah, schnappte ich nach Luft und stieß einen Schrei des Erstaunens aus. Die Jalousie war unten und im Zimmer brannte ein helles Licht. Die Silhouette eines Mannes, der in einem Stuhl in dem Raum saß zeichnete sich deutlich als Umriss auf der beleuchteten Leinwand im Fenster ab. Man konnte die Gestalt nicht verwechseln, die Kopfhaltung, die quadratischen Schultern, die scharfen Gesichtszüge waren eindeutig. Das Gesicht war im Profil, so dass es aussah wie eines der Schattenbilder, die unsere Großeltern so gerne aufhängten. Es war eine perfekte Reproduktion von Holmes. Ich war so erstaunt, dass ich mit meiner Hand nach meinem Begleiter griff, um sicherzugehen, dass er auch wirklich neben mir stand. Er bebte in stillem Gelächter. »Nun?« sagte er. »Meine Güte!« rief ich. »Das ist fabelhaft.« »Ich schätze weder das Alter, noch die Gewohnheit lässt meine unendliche Vielfalt schwinden«, sagte er und ich erkannte in seiner Stimme die Genugtuung und Stolz eines Künstlers über sein Werk. »Es sieht wirklich aus wie ich, oder?« »Ich hätte schwören können, dass Sie es sind.« »Die Ausführung geht auf das Konto von Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble, der einige Tage mit der Modellierung verbrachte. Es ist eine Büste aus Wachs. Den Rest habe ich heute Nachmittag bei meinem Besuch in der Baker Street selbst arrangiert.« »Aber wofür?« »Weil, mein lieber Watson, ich den starken Wunsch hatte, dass bestimmte Leute glaubten ich sei dort, während ich in Wirklichkeit woanders bin.« »Und Sie denken dieser Raum wird beschattet?« »Ich WEIß, dass er beschattet wird.« »Von wem?« »Von meinen alten Feinden, Watson. Von der so reizenden Gesellschaft, deren Chef nun in den Reichenbachfällen liegt. Sie müssen sich erinnern, dass sie und nur sie wussten, dass ich immer noch am Leben war. Sie dachten, das ich früher oder später sicher wieder in meine alten Räume zurückkehren würde. Also waren sie regelmäßig auf der Lauer und heute Morgen haben sie mich ankommen sehen.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe ihren Späher erkannt, als ich aus dem Fenster schaute. Er ist ein eher kleiner Fisch namens Parker, schwerer Diebstahl seine Spezialität und er ist ziemlich gut an der Maultrommel. Er war mir egal. Aber die Person, die hinter ihm stand, war mir ganz und gar nicht egal: Der Busenfreund Moriartys, der Mann, der mir die Steine über das Kliff entgegengeworfen hatte, der gewiefteste und gefährlichste Verbrecher in London. Das ist der Mann, der heute Abend hinter mir her ist, Watson, und er ist sich bestimmt nicht bewusst, dass wir hinter ihm her sind.«