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Nun, ihre Version von ihr jedenfalls, denn die unterschied sich gewaltig von der Frau, die er im Zug kennengelernt hatte. Sicher, sie war ebenso freundlich und locker im Umgang mit den Patienten, wie sie es bei ihren Reisegefährten gewesen war. Doch hier, in Vickers Hill, war sie ganz eindeutig Flick. Die junge Frau aus der Kleinstadt, die freundliche Krankenschwester und jeder-manns beste Freundin. Sie kannte jeden, und jeder kannte sie. Sie war eine verdammte Heilige. Er bezweifelte, dass sich irgendjemand – von zwei oder drei Wichtigtuern einmal ab-gesehen – sie dafür verurteilen würde, was sie in ihrer Freizeit tat. Aber was, wenn sie glaubte, dass sie es machten. Sie hatten nicht mehr über das, was im Zug passiert war, gesprochen. Doch da sie in den kommenden Monaten zusammenarbeiten würden, war es vielleicht an der Zeit, dass sie das nachholten. Vielleicht würde sie aber auch von selbst einsehen, dass er nicht hier war, um ihr das Leben schwerzumachen. „Also“, sagte er und rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Was genau ist der Zweck die-ser Hausbesuche?“ „Sie sind ein Dienst an den Älteren und körperlich eingeschränkten Patienten, für die der Weg in die Praxis zu beschwerlich oder schlichtweg unmöglich wäre.“ Sie ratterte es herunter, so als würde sie es von einer Presseinformation ablesen. Sie nahm den Blick nicht von der Straße oder warf ihm auch nur einen kurzen Seitenblick zu. Callum ließ sich davon nicht beeindrucke. „Aber was genau machst du bei diesen Hausbesuchen? Geht es um medizinische Probleme oder handelt es sich um eine Art Höflichkeitsbesuch?“ Ihre Finger verkrampften sich um das Lenkrad. „Ich mache viele verschiedene Dinge. Ich kümmere mich um medizinische Probleme, ja, aber es geht auch darum, den generel-len Zustand der Patienten zu bewerten. Ich messe beispielsweise den Blutdruck und den Blutzucker, und wenn der jährige Check-up ansteht, erledige ich auch diesen. Ich sorge dafür, dass alle notwendigen Medikamente vorhanden sind, und ich mache Bestellun-gen.“ „Bestellungen?“ Zumindest nickte sie diesmal. „Medizinische Materialien. Inkontinenzprodukte, Stoma-Beutel, Zubehör für die Peritonealdialyse, Teststreifen und aber auch Duschstühle und Gehhilfen.“ „Das klingt, als hättest du eine Menge zu tun.“ „Ja, es dreht sich nicht alles nur um Tee und Scones“, entgegnete sie schnippisch. Er war drauf und dran, sie darauf anzusprechen, als sie den Blinker setzte und sagte: „Das erste Haus links ist das von Mr. Morley.“ Callum sah zum Fenster hinaus und erblickte ein altmodisches, niedriges Cottage, das ein bisschen liebevolle Zuwendung gebrauchen konnte. Sie löste ihren Gurt und sah ihn, zum ersten Mal, seit sie in den Wagen gestiegen waren, direkt an. „Diese Leute kennen mich. Sie vertrauen mir. Fremden gegenüber sind sie häufig misstrauisch, und sie reden lieber mit einer Schwester über ihre medizinischen Proble-me, als mit einem Arzt. Gut möglich, dass sie dir gegenüber argwöhnisch sind. Versuch einfach … Bleib einfach im Hintergrund, okay?“ Sie ließ ihm keine Zeit, darauf zu antworten, und stieg aus dem Auto. Ihr Zutrauen in ihn war wirklich ermutigend. Was folgte, waren fünf anstrengende Stunden, in denen Callum das Kleinstadtleben in all seinen Nuancen und Facetten kennenlernte. Und das alles an einem einzigen Nachmittag mit St. Felicity und ihren Schäflein. Es war nicht das effektivste System, das er je gesehen hatte. Dazu gab es für seinen Geschmack zu viel Geplauder, zu viel Tee und Gebäck. Aber es schien eine Art Ritual zu sein, und mit Felicitys Anweisung noch in den Ohren, langte er ordentlich zu. Und im nachhinein musste er gestehen, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so gut ge-gessen hatte. Er würde sich erst einmal im Fitness-Studio anmelden müssen, wenn er nach Sydney zurückkehrte. Doch er würde sich nicht nachsagen lassen, nicht alles ge-tan zu haben, damit die Patienten, die tatsächlich eher argwöhnisch zu sein schienen, mit ihm warm wurden. Schließlich erreichten sie ihre letzte Station – Meryls Haus. Entweder sie hatte keinen Nachnamen oder sie bedurfte keiner formellen Ansprache, so wie es bei den anderen Patienten der Fall gewesen war. Einfach nur Meryl, anscheinend. Bei ihrem Haus handelte es sich um ein kleines Cottage mit überdachter Veranda. Traumfänger und Windspiele in allen Größen und Formen hingen von den Dachrinnen heran. Der durchdringende Geruch von Weihrauch kitzelte Callum in der Nase, und als sie das Haus betraten, bemerkte er einen kleinen Schrein für Buddha mit Kerzen und Blumen in einem Winkel des Wohnzimmers. Meryl mochte ihn gleich. Sie saß auf einem dicken Polstersessel und war mit Abstand die faltigste Person, der Callum je begegnet war. Aber ihr Bewegungen lag eine gewisse Stärke und Agilität inne, die ihn vermuten ließ, dass sie jünger war als sie erschien. Er streckte ihr die Hand entgegen, als Felicity sie miteinander bekanntmachte. Meryls Händedruck war sanft aber fest. „Cal“, sagte sie mit der heiseren Stimme einer starken Raucherin. Sie sah ihm gerade-wegs in die Augen und musterte ihn. „Sie haben eine unglückliche Aura“, stellte sie schließlich fest und ließ seine Hand los. Callum sah zu Felicity, in der Hoffnung auf eine Erklärung, doch vermutlich war Meryl ganz einfach ein bisschen verrückt. Felicity hob lediglich eine Braue. Nun, wahrscheinlich hätte er sich schon denken können, dass jemand, der in einem Haus voller Traumfänger lebte, ein bisschen … alter-nativ war. „Meryl liest Auren“, erklärte sie schließlich mit einem leisen Lächeln. Dieses kleine, wissende Lächeln brachte seinen Atem für einen Moment zum Sto-cken, denn es war unglaublich sexy. Die ganze Woche über hatte er versucht, nicht an diesen Mund zu denken, oder daran, wo an seinem Körper er ihn schon überall gespürt hatte. Vergebliche Liebesmüh. „Hm … jetzt wirkt sie schon ein bisschen fröhlicher“, stellte Meryls fest. Callum blinzelte. Ein Live-Kommentar zum Zustand seiner Aura – nun, das war doch mal etwas Neues. „Setzen Sie sich, Cal“, sagte Meryl und klopfte auf den Stuhl neben sich. Callum wollte wesentlich lieber draußen im Wagen sitzen, aber er sah keinen Weg, abzulehnen, ohne unhöflich zu wirken. Hilfesuchend wandte er sich an Felicity, die die ganze Situation jedoch augenscheinlich höchst amüsant fand. „Welche Farbe hat Felicitys Aura?“, fragte er, und wandte seine Aufmerksamkeit Meryl zu. Doch zum Glück stand sie zu seiner rechten Seite, sodass er mit seinem guten Auge sehen konnte, wie ihr Lächeln verblasste. Wobei er keinen Grund für sie sah, sich Sorgen zu machen. Die Aura der heiligen St. Felicity erstrahlte vermutlich in den Farben des Regenbogens und duftete nach Erdbee-ren und Zuckerwatte. „Vermutlich dieselbe wie immer“, entgegnete Meryl und wandte ihren Blick Felicity zu. Was sie sah, schien sie zu überraschen, denn sie hob eine Braue. „Oder vielleicht auch nicht“, sagte sie dann. „Normalerweise ist sie sehr ausgeglichen, aber heute wirkte sie ein wenig … zerrupft.“ Callum grinste, als der Spieß umgedreht wurde, und Felicity nun diejenige war, die unbehaglich wirkte. Doch dann kehrte Meryls Blick wieder zu ihm zurück, und er presste die Lippen zusammen, um seine Schadenfreude zu verbergen. Wobei ihm nicht sicher war, dass es ihr gelang, Meryl etwas vorzumachen. „Sie wohnen in Lucis Haus, oder?“ Callum nickte. „Ja. Und sie wohnt in meinem Apartment in Sydney.“ „Und wie lange bleiben Sie in Vickers Hill?“ „Acht Wochen.“ „Nein.“ Meryl schüttelte langsam den Kopf und musterte ihn dabei eindringlich. Ihr Blick war so intensiv, dass sie eine Gänsehaut bekam.“ Nein, Sie bleiben sehr viel länger hier als nur acht Wochen.“ Callum runzelte die Stirn. So ein Unsinn. Natürlich würde er nach Sydney zurückkeh-ren. In sein Apartment am Hafen und zu seinem Job, den er im neuen Jahre antreten würde. Vickers Hill war nur ein Zwischenstopp. Ein Ort, um einmal richtig durchatmen zu können. Er blickte Felicity an, die jetzt selbst ein bisschen unsicher wirkte. „Ich kann Ihnen versichern“, sagte Callum und setzte sein strahlendstes Lächeln für Meryl auf. „Mein Aufenthalt wird nur von kurzer Dauer sein.“ Meryl lächelte und tätschelte seine Hand. „Sie werden schon sehen“, erklärte sie ihm. „Alles wird gut werden. Es war ihr Schicksal, nach Vickers Hill zu komme. Ich sehe es in Ihrer Aura.“ Callum wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Offensichtlich würde Meryl ihre Meinung nicht ändern, und was kümmerte es ihn, was eine verrückte alte Dame die Au-ren las, sagte? „Ja, gut.“ Felicity klatschte in die Hände. „Dann lassen Sie uns mal Ihren Blutdruck messen, Meryl.“ Callum erhob sich, dankbar, dass ihm weiteres Gerede über Auren, Schicksal und seine Zukunft in Vickers Hill erspart blieb. Er hätte sie dafür küssen können. Er hätte sie wirklich küssen können. Callum blickte zum Beifahrerfenster von Felicitys Wagen hinaus, als sie vor Lucis Haus anhielt. Er hatte sich noch immer nicht an den Landhauskitsch gewöhnt, den sein vo-rübergehendes Domizil ausstrahlte. Es war ein Stein-Cottage aus der Jahrhundertwen-de, mit Kamin und einer Veranda, die das gesamte Gebäude umfasste. Der ganze Garten war gepflegt und erstrahlte in einer Farbenpracht, die das Chichi der Inneneinrichtung wiederspiegelte. Spitze und hübsche kleine Sprossenfenster, weiße Möbel im Shabby Chic Stil und jede Menge Schnickschnack. Es hatte so gar nichts von seinem schicken, minimalisti-schen Apartment mit den Panoramafenstern, von denen aus man einen unglaublichen Blick aufs Wasser hatte. Callum sah Felicity an. Sie hatten auf der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen. Ver-mutlich waren sie beide ein wenig perplex. „Also … Meryl ist … ein bisschen eigen?“