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Meine Damen und Herren Abgeordnete, unsere klimapolitische und wirtschaftliche Führungsrolle ist für die globalen und sicherheitspolitischen Ziele Europas von zentraler Bedeutung. Sie spiegelt auch wider, dass es in einer Zeit des Übergangs zu einer neuen internationalen Ordnung auch zu größeren Verschiebungen im Weltgeschehen kommt. Wir treten in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz ein. Eine Ära, in der manche vor nichts zurückschrecken, um an Einfluss zu gewinnen: von Impfversprechen und hohen Zinssätzen bis hin zu Raketen und Desinformation. Eine Ära regionaler Rivalitäten und großer Mächte, die ihr Verhältnis zueinander neu austarieren. Die jüngsten Ereignisse in Afghanistan sind nicht die Ursache, sondern ein Symptom dieser Veränderungen. Eines möchte ich vor allem klarstellen: Wir stehen dem afghanischen Volk zur Seite. Den Frauen und Kindern, den Staatsanwälten, Journalisten und Menschenrechtsverteidigern. Ich denke dabei besonders an die Richterinnen, die sich nun vor den Männern verstecken müssen, die zuvor von ihnen hinter Gitter gebracht worden waren. Sie sind jetzt in Gefahr, weil sie einen Beitrag für Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit geleistet haben. Wir müssen ihnen helfen, und wir werden in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten alle Anstrengungen unternehmen, um sie in Sicherheit zu bringen. Und wir müssen weiterhin alle Afghaninnen und Afghanen im Land selbst und in den Nachbarländern unterstützen. Wir müssen alles tun, um die echte Gefahr einer schweren Hungersnot und einer humanitären Katastrophe abzuwenden. Und wir werden unseren Teil leisten. Wir werden die humanitäre Hilfe für die Menschen in Afghanistan noch einmal um 100 Millionen Euro erhöhen. Dies gehört zu einem neuen umfassenden Paket zur Unterstützung Afghanistans, das wir in den nächsten Wochen vorlegen werden, um all unsere Anstrengungen unter ein Dach zu bringen. Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, die jüngsten Ereignisse in Afghanistan waren äußerst schmerzhaft für all die Familien der Gefallenen. Wir verneigen uns in Anerkennung des Opfers dieser Soldatinnen und Soldaten, Diplomatinnen und Diplomaten und Hilfskräfte, die dort ihr Leben gelassen haben. Damit ihr Dienst nicht vergeblich war, müssen wir darüber nachdenken, wie es passieren konnte, dass diese Mission so abrupt endete. Hier gibt es zutiefst beunruhigende Fragen, die die Bündnispartner in der NATO sich stellen müssen. Doch wenn es um Sicherheit und Verteidigung geht, ist weniger Zusammenarbeit ganz einfach nie die richtige Antwort. Wir müssen in unsere Partnerschaft investieren und die einzigartigen Stärken jeder Seite nutzen. Deshalb arbeiten wir zusammen mit Generalsekretär Jens Stoltenberg an einer neuen Gemeinsamen Erklärung von EU und NATO, die noch dieses Jahr vorgelegt werden soll. Doch das ist nur eine Seite der Gleichung. Europa kann – und sollte – seine Bereitschaft zeigen, selbst mehr zu tun. Aber wenn wir mehr tun wollen, müssen wir zunächst erklären, warum. Hier mache ich im Großen und Ganzen drei Kategorien aus. Erstens müssen wir in unserer Nachbarschaft und in unterschiedlichen Regionen für Stabilität sorgen. Wir sind über Meeresengen, die stürmische See und sich weit erstreckende Landgrenzen mit der Welt verbunden. Wegen dieser geografischen Gegebenheiten weiß Europa sehr genau: Wenn wir uns um die Krisen andernorts nicht rechtzeitig kümmern, kommen sie zu uns. Zweitens ändert sich die Art der Bedrohungen, mit denen wir es zu tun haben, rasant, von hybriden Angriffen oder Cyberattacken bis zum Wettrüsten im Weltraum. Bahnbrechende Technologien verschaffen Schurkenstaaten oder nichtstaatlichen Gruppierungen heute ganz neue Möglichkeiten, ihre Macht einzusetzen. Niemand braucht mehr Armeen und Raketen, um verheerenden Schaden anzurichten. Alles, was es noch braucht, um Industriewerke, Stadtverwaltungen und Krankenhäuser lahmzulegen, ist ein Laptop. Und ein Smartphone und eine Internetverbindung genügen, um Wahlen zu stören. Der dritte Grund ist, dass die Europäische Union in einzigartiger Weise für Sicherheit sorgt. Es wird Missionen ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO geben – hier sollte die EU Präsenz zeigen. Vor Ort arbeiten unsere Armeeangehörigen Seite an Seite mit der Polizei, mit Anwältinnen und Anwälten und Ärztinnen und Ärzten, mit dem Personal der humanitären Hilfe und mit Verteidigerinnen und Verteidigern der Menschenrechte, mit Lehrkräften und technischem Fachpersonal. Wir können militärische und zivile Aspekte miteinander verbinden, zusammen mit Diplomatie und Entwicklungspolitik – und wir haben eine lange Geschichte vorzuweisen, wenn es darum geht, Frieden zu schaffen und zu schützen. Die gute Nachricht ist, dass wir in den letzten Jahren begonnen haben, im Sicherheitsbereich europäische Strukturen aufzubauen. Doch was wir brauchen, ist die Europäische Verteidigungsunion. In den letzten Wochen gab es viele Debatten über schnelle Reaktionskräfte. Welche Art brauchen wir und wie viele? Verbände, die rasch eingesetzt werden können, oder eine EU-Interventionstruppe. Dies ist zweifellos Teil der Debatte – und ich denke, es wird auch Teil der Lösung sein. Die viel grundsätzlichere Frage ist jedoch, warum all das bisher nicht funktioniert hat. Man kann die am weitesten entwickelten Streitkräfte der Welt haben – doch wenn man nie bereit ist, sie einzusetzen – wozu sind sie dann gut? Was uns bisher zurückgehalten hat, sind nicht nur fehlende Kapazitäten – es fehlt auch der politische Wille. Wenn wir diesen politischen Willen entwickeln, können wir auf EU-Ebene viel tun. Lassen Sie mich Ihnen drei konkrete Beispiele geben: Erstens müssen wir die Grundlage für unsere gemeinsame Entscheidungsfindung schaffen – und die Lage vor Ort möglichst umfassend verstehen. Wir bleiben hier bislang oft unter unseren Möglichkeiten, wenn Mitgliedstaaten, die in derselben Region aktiv sind, ihre Erkenntnisse nicht auf europäischer Ebene teilen. Wir müssen unser Informationsmanagement dringend verbessern. Es geht nicht nur um geheimdienstliche Erkenntnisse im engeren Sinne. Es geht darum, die Daten und das Wissen aller beteiligten Stellen und aus allen Quellen zusammenzuführen. Von Satellitenbildern bis zu den Erkenntnissen etwa von Polizeiausbilderinnen und -ausbildern, von der Auswertung öffentlicher Quellen bis zu Kenntnissen, die in der Entwicklungszusammenarbeit anfallen. All das verschafft uns Wissen in einzigartigem Umfang und in einzigartiger Tiefe. Es ist da und greifbar für uns! Doch für fundierte Entscheidungen können wir es nur nutzen, wenn wir ein vollständiges Bild haben. Und das haben wir derzeit nicht. Wir haben die Kenntnisse, doch nicht zusammenhängend. Die Informationen sind verstreut. Deshalb könnte die EU ein eigenes gemeinsames Lage- und Analysezentrum in Betracht ziehen, um all die verschiedenen Informationen zusammenzuführen. Und um besser vorbereitet zu sein, umfassend informiert und in der Lage zu entscheiden. Zweitens müssen wir die Interoperabilität verbessern. Deshalb investieren wir bereits in gemeinsame Europäische Plattformen, von Kampfflugzeugen bis hin zu Drohnen und im Cyber-Bereich. Doch wir müssen auch über neue Wege nachdenken, alle möglichen Synergieeffekte zu nutzen. Ein Beispiel könnte eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von Verteidigungsausrüstung sein, die in Europa entwickelt und hergestellt wurde. Das würde nicht nur unsere Interoperabilität erhöhen, sondern auch unsere Abhängigkeit verringern. Drittens können wir nicht über Verteidigung sprechen, ohne über Cyber zu sprechen. Wenn alles miteinander vernetzt ist, kann alles gehackt werden. Da die Ressourcen knapp sind, müssen wir unsere Kräfte bündeln. Und wir sollten nicht allein damit zufrieden sein, dass wir gegen Cyber-Bedrohungen vorgehen – wir sollten danach streben, bei der Cyber-Sicherheit führend zu werden. Hier in Europa wollen wir herstellen, was wir dafür benötigen. Daher brauchen wir eine Europäische Cyber-Sicherheitspolitik. Diese soll auch Gesetze für gemeinsame Standards umfassen, in einem neuen Europäischen Gesetz zur Cyber-Widerstandsfähigkeit. Wir können also auf EU-Ebene viel tun. Doch auch die Mitgliedstaaten müssen mehr tun. Dies fängt an mit einer gemeinsamen Erfassung der Bedrohungen und einem gemeinsamen Ansatz im Umgang mit ihnen. Der bevorstehende Strategische Kompass ist hier ein wichtiger Prozess. Wir müssen entscheiden, wie wir die Möglichkeiten, die uns der Vertrag bereits bietet, nutzen können. Zu diesem Zweck werden Präsident Macron und ich während des französischen Ratsvorsitzes zu einem Gipfel zur Europäischen Verteidigung einladen. Es ist an der Zeit, dass Europa einen Sprung macht.